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Susanne Zetzl Autorin
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Erschienen im Verlag Wilko Müller, Edition SOLAR-X, 258 Seiten

ISBN: 978-3-945713-51-8, 12,80 Euro


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1. Maren


Maren hatte das Schlauchboot beinahe ganz aufgepumpt. Ihr wurden langsam die Beine schwer. Eine gefühlte Ewigkeit stand sie nun schon in der Hitze und trat auf die winzige Luftpumpe. Jeder Schub Luft schien zu verpuffen, als hätte das blöde Ding ein Loch. Die Sonne brannte vom Himmel und Maren schwitzte. Das Shirt über ihrem Bikini klebte auf der Haut. Gern hätte sie es ausgezogen, aber ihre Eltern bestanden darauf, dass sie es anbehielt. Zu viel Sonne für ihre zarte Haut, sagten sie.

Maren hielt einen Moment inne und holte tief Luft. Das Meer zeigte sich heute still und verlockend blau, aber das Meer war nicht ihr Ziel. Sie wollte mit dem Schlauchboot den Fluss erkunden, der sich hinter dem Campingplatz träge ins Meer schlängelte. Maren wollte zu gern wissen, wie weit man wohl käme, wenn man flussaufwärts paddelte. Seufzend nahm sie ihre Pumparbeit wieder auf. Langsam nahm das Boot Form an. Maren überlegte, wie sie ihr Vorhaben bei den Eltern durchdrücken konnte. Bestimmt würden die es nicht erlauben. Dabei war Maren der Meinung, dass sie mit ihren fünfzehn Jahren schon gut auf sich selbst aufpassen konnte. Nur eines bereitete ihr noch mehr Kopfzerbrechen: Dass Silvia mit ihrem kleinen dicken Bruder am Strand auftauchen könnte. Und dann natürlich mitkommen wollte. Maren pumpte schneller. Alles, bloß das nicht!

Als sie im Frühjahr erfuhr, dass ihre Eltern gemeinsam mit Silvias Familie in den Urlaub fahren wollten, hatte sie lautstark protestiert. Sie konnte Silvia nicht ausstehen. Und ihren fetten kleinen Bruder Hubert, genannt »Hubbsi« (allein schon dieser Name!) genauso wenig. Obwohl Silvia zwei Jahre jünger war als sie, war sie doppelt so vorlaut. Alles wusste sie besser, ständig musste sie ungefragt ihren Senf dazugeben, egal um was es ging. Aber für ihre Eltern war der gemeinsame Urlaub auf Sardinien beschlossene Sache. Für Maren hingegen der totale Reinfall. Zwar versuchte sie, den Geschwistern aus dem Weg zu gehen, wo sie nur konnte, doch dank Silvias aufdringlicher Art gelang ihr das nur selten.

Aber für heute standen die Chancen nicht schlecht. Sie war mit ihren Eltern gleich nach dem Frühstück zum Strand aufgebrochen. Von Silvia samt ihrer nervigen Familie war weit und breit nichts zu sehen – vielleicht schliefen sie noch in ihren Zelten. Jedenfalls hoffte Maren das.

Sie nahm den Fuß von der Pumpe und prüfte die Luft in den Kammern. Ja, das müsste reichen. Sie bückte sich und drückte den letzten Stöpsel fest in das Ventil. Dabei fiel ihr immer wieder eine ihrer braunen Locken ins Gesicht. Eine Marter, diese Haarpracht bei der Hitze. Sie fingerte einen Haargummi aus ihren Shorts und band alles im Nacken zusammen. Suchend blickte Maren sich um – wunderbar, keine Silvia, kein Hubbsi in Sicht. Genau der richtige Zeitpunkt, ihre Eltern von der Flussfahrt zu überzeugen, und sie würde für wenigstens einen halben Tag Ruhe haben – traumhafte Aussichten!

Maren ging zu ihren Eltern, die im Schutz eines Sonnenschirms vor sich hin dösten. Ihr Vater schien fest zu schlafen, er schnarchte leise. Sie ließ sich in den warmen Sand plumpsen.

»Mama, ich würde gerne mit dem Schlauchboot zum Fluss hinter dem Campingplatz, ein wenig herumpaddeln. Ist das ok?«, fragte sie leise, um ihren Vater nicht zu wecken.

»Alleine?«, fragte ihre Mutter, ohne die Augen zu öffnen.

Maren schluckte. »Ja, alleine, ist ja schließlich noch keiner von den anderen da.« Schlechtes Argument, Maren wusste es in dem Moment, als sie es ausgesprochen hatte. Sie ahnte, was kommen würde.

»Alleine gehst du keinesfalls dort paddeln. Warte, bis Silvia kommt, dann könnt ihr von mir aus miteinander losziehen.«

Obwohl Maren wusste, dass sie so gut wie verloren hatte, versuchte sie es noch einmal: »Mama, bitte, ich bleibe auch nicht lange und ruder’ auch nicht allzu weit vom Campingplatz weg – ich versprech’s dir!«

Die Mutter hob den Kopf, sah sie an und meinte: »Ich sagte nein. Es gefällt mir nicht, dich ganz alleine dort hinten zu wissen. Entweder ihr zieht gemeinsam los oder gar nicht, basta.« Sie ließ den Kopf zurückfallen und schloss wieder die Augen – deutlicher hätte sie das Ende der Diskussion nicht zeigen können.

Maren schob die Knie ans Kinn und sah auf das Meer hinaus. Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine steile Falte. Das war’s wohl mit der Fluss-Erkundung. Lieber wollte sie gar nicht fahren, als mit Silvia und wer weiß wem noch! Wie konnte sie es nur anstellen, alleine wegzukommen?

Immer wieder ließ sie den weißen Sand zwischen ihren Fingern hindurchrieseln. Und dann hörte sie eine Stimme – Silvias Stimme. Maren drehte sich nicht nach ihr um, sie konnte Silvias blonden Haarschopf auch so aus den Augenwinkeln auf sich zusteuern sehen. Natürlich mit ihrem Bruder Hubbsi im Schlepptau.

»Morgen allerseits!«, rief Silvia und Marens Vater schreckte laut schnarchend auf.

»Na, gut geschlafen?«, fragte Silvia an Maren gewandt, während sie ihr Handtuch ausschüttelte. Sandkörner rieselten auf Maren herab.

»He, pass doch auf!«, rief sie ihr statt einer Antwort zu.

Silvia tat, als hätte sie das nicht gehört und setzte sich.

Ihr Bruder Hubbsi ließ sich keuchend neben sie fallen. »Schon ganz schön heiß heute, was?«, fragte er. Maren sah ihn an, die Haare klebten ihm auf der verschwitzten Stirn. Die Antwort, die ihr auf der Zunge lag, verkniff sie sich.

Im nächsten Moment richtete sich Marens Mutter auf und sah zu den Geschwistern hinüber. Maren ahnte, was jetzt kommen würde und warf ihr einen flehenden Blick zu. Aber noch ehe sie es verhindern konnte, sagte ihre Mutter zu Silvia: »Morgen Silvia, schön, dass ihr da seid. Maren würde gerne den Fluss hinter dem Campingplatz mit dem Schlauchboot erkunden – hättest du nicht auch Lust dazu?«

»Eine Flussfahrt?«, fragte Silvia und sah Maren an. Die antwortete nicht. Doch das schien Silvia nicht zu stören. »Cool! Klar habe ich Lust, ich frag’ schnell, ob ich darf!«

Maren sah ihr resigniert nach, wie sie zu ihren Eltern sauste, die gerade auf die kleine Gruppe zusteuerten. Auch Hubbsi schien die Idee zu gefallen.

»Ich will auch mit!«, quengelte er und raffte sich auf, um Silvia hinterherzurennen.

Maren warf ihrer Mutter einen wütenden Blick zu. »Was hast du denn?«, fragte die und setzte eine gleichgültige Miene auf, »du wolltest doch auf den Fluss, oder nicht? Jetzt darfst du.«

Maren schloss die Augen. Das durfte doch nicht wahr sein! Sie wollte nur noch weg, weg aus diesem bescheuerten Urlaub, der für sie gar keiner war. Nie konnte sie was alleine machen, ständig klebten die beiden wie Pech an ihr! Die Flussfahrt war ihr mittlerweile stinkegal, sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Silvias Eltern es nicht erlauben würden, dann hätte sich das Thema ein- für allemal erledigt. Ohne es zu wollen, vernahm sie Bruchstücke der Unterhaltung zwischen Silvia, Hubbsi und deren Eltern – was sie hörte, gefiel ihr gar nicht. Maren legte den Kopf auf die Knie und schloss die Augen.

»Ich darf mit!«, hörte sie da Silvia auch schon rufen.

»Und ich auch, ich muss nur mein Shirt und meine Shorts anlassen, damit ich nicht wieder Sonnenbrand kriege«, ergänzte Hubbsi. Maren blinzelte und schielte auf das beige Shirt, das sich straff über seinen Bauch spannte. »Ist auch besser so«, murmelte sie.

Doch das ging in Silvias Geplapper unter. Wie ein Wasserfall quasselte sie unaufhörlich weiter: »Prima, oder? Das wird super, wir fahren ein Stück weit hinein und schubsen uns dann gegenseitig aus dem Boot, wer es länger aushält und dann …«

»Aber ich will der Kapitän sein!«, quiekte Hubbsi dazwischen. Silvia sah ihren Bruder an und meinte: »Klar Hubbsi, wer denn sonst! Das ist doch nur was für echte Männer wie dich!« Sie sprang auf und die Geschwister gaben sich ein High Five. »Das wird ein Spaß! Also los, worauf warten wir noch? He Maren, cool, du hast das Schlauchboot ja schon aufgepumpt!«

»Ja, aber nicht für euch«, sagte Maren, ohne Silvia anzusehen.

»Ich teste mal, ob genug Luft drin ist!«, rief Hubbsi und sprang in das prall gefüllte Boot. Silvia tat es ihm nach. Maren sah den beiden zu und wusste, dass ihr die Lust auf eine Flussfahrt nun endgültig vergangen war. Während sie noch überlegte, wie sie sich möglichst unauffällig aus dieser Sache herauswinden könnte, fragte ihre Mutter: »Na, wann wollt ihr los?«

Maren zuckte mit den Schultern. Ihre Mutter wartete die Antwort nicht ab. »Also passt bitte auf. Und seid bis Mittag zurück. Und nimm dein Handy mit, bitte.«

›Damit du mir hinterherspionieren kannst‹, dachte Maren. »Mit ins Boot? Nee, das wird nur nass, das lass ich lieber hier.«

»Gut, verstehe. Und lass bitte dein Shirt und deine Shorts an, damit …«

»… ich keinen Sonnenbrand kriege, ich weiß«, unterbrach Maren sie genervt. »Ich glaube, ich habe keine Lust mehr auf die Flussfahrt.«

Marens Mutter stieß hörbar die Luft durch die Nase aus. Ihre Stimme klang gereizt. »Sag mal, weißt du eigentlich selbst noch, was du willst? Immer dasselbe mit dir! Aus dir soll einer schlau werden, zuerst willst du unbedingt, dann wieder nicht – was soll denn das? Silvia und Hubert freuen sich doch schon so!« Sie deutete auf die hüpfenden Geschwister.

»Ja, auf meine Kosten.«

»Maren, jetzt ist Schluss! Entweder ihr unternehmt jetzt was gemeinsam, oder du kannst den restlichen Tag alleine im Zelt verbringen!«

Maren sah drei Wellen lang zu, wie sie sich am Strand brachen. Den Ton ihrer Mutter kannte sie. Jede weitere Diskussion wäre zwecklos. Und einen ganzen Tag im Zelt zu verbringen, erschien ihr nicht so prickelnd. Da war es wahrscheinlich wirklich klüger, sie gab nach. »Ist ja gut, wir gehen ja schon.« Maren stand auf und wollte gerade auf die Geschwister zugehen, als sie Fabian entdeckte. Er schlenderte auf sie zu. Marens Herz schlug ein bisschen schneller.

»Hallo Maren, was habt ihr heute vor?«, fragte er und blieb grinsend vor ihr stehen. Marens Laune hellte sich schlagartig auf. Der erste Lichtblick des Tages! Ihre Stimme klang um einiges fröhlicher, als sie antwortete: »Eigentlich hatte ich vor, eine Flusserkundung mit dem Schlauchboot zu machen. Alleine. Aber jetzt wollen die beiden Nervensägen auch wieder mit«, und sie nickte in Richtung Silvia und Hubbsi. Fabian lachte und verdrehte die Augen. »Kenn’ ich, als Bruder einer dreijährigen Schwester weiß ich, wie nervig das sein kann.«

Maren fühlte sich sofort besser. Jetzt, wo Fabian da war, sah die Welt doch schon wieder ganz anders aus. Maren und Silvia hatten ihn gleich am ersten Tag ihres Urlaubs kennengelernt. Auch er verbrachte mit seiner Familie hier die Ferien und Maren fand ihn richtig nett. Sie fand ihn sogar sehr nett.

»Kann man noch mitfahren, oder ist der Kahn bereits voll?«, fragte Fabian und grinste noch breiter.

Maren versuchte lässig zu wirken. »Klar kannst du noch mitfahren. Und nimm deine kleine Schwester auch gleich mit. Auf die kommt es jetzt auch nicht mehr an.«

»Als könntest du Gedanken lesen«, scherzte Fabian. »Haben mich meine Eltern vorhin doch tatsächlich gebeten, heute mal ein bisschen auf Inga aufzupassen, damit sie auch was von ihrem Urlaub haben.«

»Na bitte, dann wäre das ja geklärt.« Maren klopfte sich den Sand von ihren Shorts.

»Bestens, dann gehe ich mal Inga holen und meinen Eltern Bescheid sagen. Wartet auf uns, wir sind gleich zurück!«, rief er und verschwand in Richtung seiner Familie.

»Na dann, wenigstens etwas«, murmelte Maren und schlüpfte in ihre Flip-Flops. Sie fand Inga eigentlich recht niedlich. Wenigstens war sie eine wunderbare Möglichkeit, um sich von den beiden Nervensägen abzulenken – Maren würde lieber zehn Mal hintereinander mit der kleinen Inga »Das ist der Daumen« spielen, als sich mit den Geschwistern abzugeben.

Einigermaßen versöhnt rief sie Silvia und Hubbsi zu: »Wenn ihr weiter so auf dem Boot herumhüpft, hat sich das mit der Flussfahrt bald erledigt, außerdem ist das albern.«

»Ach, hab dich nicht so, ein gutes Boot hält das aus«, antwortete Silvia und sprang absichtlich noch heftiger auf und ab. Auch ihr Bruder, der kleine Wichtigtuer, hopste mit seinem Hintern wie verrückt auf dem Rand des Bootes herum. Sein Kopf war schon ganz rot.

Maren fühlte, wie Wut in ihr hochkroch und wollte gerade zu einer heftigen Antwort ansetzen, als es einen lauten Knall gab. Nahezu schlagartig wich die Luft aus dem Boot. Ein tiefer Riss an einer der Seitennähte schlackerte in der entweichenden Luft. Fassungslos starrte Maren darauf. Zunächst brachte sie kein Wort heraus. Dann presste sie zwischen den Lippen hervor: »Ihr seid wirklich die dümmsten, bescheuertsten … Vollidioten, die die Welt je gesehen hat!«

Silvia und Hubbsi starrten immer noch auf das schrumpfende Boot. Hubbsi deutete auf seine Schwester. »Die war’s!«, kam es kleinlaut von ihm.

»Na so was, wie konnte denn das passieren?«, mischte sich Marens Mutter ein.

»Wie wohl?«, fauchte Maren und fuhr zu ihr herum.

Als Marens Mutter die Geschwister mit hängenden Köpfen dastehen sah, meinte sie: »Na ja, ist doch nicht so schlimm. War nur eine Frage der Zeit, wann das alte Ding den Geist aufgibt.«

›Nicht so schlimm?‹ Maren war den Tränen nahe. Immer verteidigte ihre Mutter die beiden! Ganz egal, was sie anstellten, immer wurde ihnen alles verziehen! Im Gegensatz zu ihr hatten die beiden die totale Narrenfreiheit! Und sie, Maren, war ständig die Dumme! Da spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. »Wir können doch auch zu Fuß den Fluss erkunden, oder?«, hörte sie Fabians Stimme. Sie hatte ihn gar nicht kommen sehen.

Hubbsi fing sich als erster wieder. Es gab wenig, was ihm wirklich die Laune verderben konnte. »Fabian kommt mit? Mega!«, rief er und strahlte von einem Ohr zum anderen.

»Ja, ich komme mit und Inga auch«, nickte Fabian.

Maren fühlte feuchte Patschhändchen an ihrem Bein. Tränenblind blickte sie hinunter zu Inga und nahm nur deren neonpinke Schwimmflügelchen wahr. Jetzt nur nicht losheulen! Sie schluckte ein paar Mal, bis der Kloß in ihrem Hals kleiner wurde. Dann nahm sie Inga bei der Hand. Die Kleine strahlte Maren an und sie brachte es zustande, zurückzulächeln. »Gut, ziehen wir los«, seufzte sie und setzte sich Richtung Fluss in Bewegung.

»Wie jetzt«, fragte Silvia, »ganz ohne Boot?«

»Dein Scharfsinn ist überwältigend!«, fuhr Maren sie an.

»Wir erkunden den Fluss eben zu Fuß. Habt ihr alle Badelatschen an?«, fragte Fabian über die Schulter an die Geschwister gewandt.

»Flip-Flops an Bord, Herr Kapitän!«, salutierte Hubbsi.

»Mann, Hubbsi, ohne Schiff kein Kapitän, kapiert?«, stieß Silvia ihren Bruder in die Seite.

»Dümmer als ein Stück Brot«, schüttelte Maren den Kopf. Nur gut, dass Inga nicht verstand, was sie damit meinte.

Es war nicht weit bis zum Fluss und unter Ingas munterem Geplapper waren sie schnell dort angekommen. Sie gingen ein Stück flussaufwärts. Maren störte sich nicht an Ingas vielen Fragen, Silvia offensichtlich schon, denn sie meinte plötzlich an Fabian gewandt: »Sag mal, muss der kleine Hosenscheißer wirklich unbedingt mit? Es nervt. Und wahrscheinlich müssen wir wegen ihr bald umkehren, weil sie zu ihrer Mama will.«

»Vergiss es, eher macht dein kleiner dicker Bruder schlapp«, konterte Fabian und blinzelte Maren zu. Maren grinste zurück und drückte Ingas Hand: Die Kleine hielt bisher tapfer mit, ganz anders als der neben ihr her keuchende Hubbsi. Sein Kopf war vor Anstrengung schon wieder ganz rot.

›Na bitte‹, dachte Maren, ›vielleicht gehen wir schneller wieder zurück als wir dachten.‹



2. Auf dem Fluss


Sie folgten dem linken Ufer weiter flussaufwärts. Langsam schien der kleine Strom hier immer tiefer zu werden, der Lärm des Campingplatzes ließ nach. Fabian beschloss, in die Mitte des Flusses zu waten, um zu prüfen, wie tief er hier schon war.

Er stand ein paar Meter vom Ufer entfernt und das Wasser ging ihm bis zu den Hüften.

»Man merkt die Strömung kaum. Ist ein ziemlich lahmer Fluss, wenn ihr mich fragt.« Als er sich zu ihnen umdrehte, stutzte er, als ob er etwas hinter ihnen entdeckt hätte. Neugierig stapfte er wieder ans Ufer, um es sich genauer anzusehen. Er bog ein paar Zweige zur Seite.

»Mann, schaut mal«, rief er aus, »hier ist ja ein richtiges Floß!«

Die anderen folgten ihm. Maren erkannte ein langes, aus Bambusrohren gefertigtes Floß. Fabian wollte es hervorziehen, aber es hing fest.

»Das ist ja zehnmal besser als so ein olles Schlauchboot, was meint ihr?«, fragte er.

»Schon – aber das gehört uns doch nicht!«, gab Maren zu bedenken.

»Ist doch egal«, warf Hubbsi ein, »wir leihen es uns ja auch nur, stimmt’s?« Er warf Fabian einen begeisterten Blick zu.

Fabians Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte dieser sich längst entschieden. »Klar, wir sind ja nicht lange unterwegs und nach ein paar Stunden bringen wir es einfach wieder zurück. Das merkt kein Mensch.«

»Fabian hat recht«, stimmte Silvia zu und sah auf Maren. »Oh Mann, Maren, jetzt tu doch nicht so, als wollten wir eine Bank ausrauben! Hab’ dich nicht so, das wird bestimmt ein toller Spaß!«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, zögerte Maren.

Fabian zerrte weiter an dem Floß. »Es ist angebunden«, stellte er fest. Ein altes Hanfseil, das um einen Baumstamm gewunden war, hielt das Boot am Ufer. Er fingerte an dem Knoten herum, aber der war gut geknüpft. Ungeduldig kramte Fabian aus der Tasche seiner Shorts ein Taschenmesser heraus.

»Du willst die Schnur zerschneiden?«, fragte Maren.

»Sicher, dann können wir es später wieder anknoten. Auf den ersten Blick spannt kein Mensch, dass die Schnur durchgeschnitten ist!«, antwortete Fabian und schnitt sie durch.

Hubbsi bekam große Augen. »Wow, darf ich das mal haben?«, fragte er und deutete auf das Taschenmesser.

»Klar, hab’ ich vor zwei Monaten von meinem Vater zu meinem sechzehnten Geburtstag bekommen.«

Hubbsi sah fast ehrfürchtig zu Fabian auf, als dieser ihm das Messer hinhielt. Während er das Messer untersuchte, zog Fabian das Floß ins Wasser. Es schwamm gut und Fabian winkte Hubbsi heran. »Komm schon, wir beide probieren mal aus, ob es uns trägt!«, rief er ihm zu. Hubbsi streifte seine Flip-Flops ab und folgte Fabian ins Wasser. »Hier, dein Messer«, sagte er und gab es ihm zurück. Mit Fabians Hilfe kletterte er auf das schwankende Gefährt und setzte sich zurecht. Anschließend schwang sich Fabian hinauf. Das Floß hielt ihr Gewicht. Fabian grinste zu den Mädchen, die immer noch am Ufer standen.

»Los, kommt schon, wir haben hier alle Platz! Versteckt die Flip-Flops hinter dem Gebüsch, damit keiner auf die Idee kommt, wir hätten ein Floß geklaut!«, gluckste Fabian.

»Und Inga?«, fragte Maren.

»Die nehmen wir in die Mitte.«

Fabian steuerte das Floß wieder ans Ufer. Er ließ sich herabgleiten und hielt Silvia die Hand hin. »Los, setz du dich hinter Hubbsi.«

Silvia ließ sich nicht zweimal bitten.

»Maren, jetzt du. Gib mir Inga, ich reiche sie dir dann. Du musst gut auf sie aufpassen, auch wenn sie Schwimmflügel anhat, ja?« Maren fühlte sich geehrt, dass Fabian gerade ihr seine Schwester anvertraute. Abgesehen davon hätte sie ihm sowieso keine Bitte abschlagen können.

Das Floß schwankte, als Maren sich ans hintere Ende setzte. Fabian gab ihr Inga und sie platzierte sie vor sich zwischen ihre Beine.

»Silvia, rutsch etwas weiter hinter, bis du Ingas Füße im Rücken spürst. Vorsichtig, mach keine schnellen Bewegungen!«

Silvia tat, was Fabian ihr gesagt hatte.

Fabian stand immer noch im Wasser und hielt das Floß fest. »So, Hubbsi, jetzt du – rutsch so nah es geht an deine Schwester ran!«

Als Hubbsi sich in Bewegung setzte, schwankte das Gefährt nach allen Richtungen und die Mädchen kreischten. »Mann, Hubbsi, etwas mehr Feingefühl!«, rief ihm Fabian zu.

»’tschuldigung.«

Als letzter setzte sich Fabian ganz vorne auf das Floß. Zwar lag das Floß mehr unter als über dem Wasser, aber es trug sie.

»Perfekt, es kann losgehen!«, rief Fabian. Vorsichtig stieß er das Floß mit einem Ast ab, den er aus dem Wasser geangelt hatte.

Maren hielt immer noch Inga fest. Plötzlich drehte die sich zu ihr um und hielt ihr wortlos etwas entgegen. Es war die kleine goldene Kette mit einem Herzchen, die Inga um den Hals getragen hatte. Maren nahm sie und erkannte, dass sie gerissen war. Inga sah Maren an und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Oh, Inga, das macht nichts, das kann man ganz schnell wieder heile machen«, versicherte Maren ihr schnell. »Fabian«, rief sie nach vorne, »Ingas Kettchen ist gerissen. Wahrscheinlich ist sie irgendwo damit hängengeblieben.«

Die Geschwister reichten das Kettchen zu Fabian durch. Er nahm es und sah es an. »Kein Problem«, meinte er und schob es in seine Shorts, »das kann ich später mit meinem Taschenmesser bestimmt reparieren. Aber jetzt sollten wir keine Zeit mehr verlieren, ich bin ab sofort euer Kapitän!« Und er begann vorsichtig mit den Händen gegen die Strömung ins Landesinnere zu rudern. »Los, helft mit, paddelt mit euren Händen!«

Silvia und Hubbsi begannen begeistert zu paddeln und Inga quietschte entzückt, als das Gefährt Fahrt aufnahm. Maren zog es vor, Inga festzuhalten und hielt nur ab und zu eine Hand ins Wasser, um die Richtung zu korrigieren.

Die träge Strömung des Flusses war fast nicht wahrnehmbar, nur wenn Maren einen Punkt in dem glasklaren Wasser fixierte, hatte sie den Eindruck von fließendem Wasser. An den tiefen Stellen schimmerte es flaschengrün, an niedrigeren gelblich.

Maren blickte sich um. Nur noch ganz entfernt konnte sie den Strand mit seinem leisen Gemurmel wahrnehmen.

Der Fluss machte eine leichte Biegung und während die Böschung am linken Ufer immer dichter wurde, bauten sich rechts schroffe Felswände auf. Das Wasser schien tiefer zu werden, je näher sie der Felsenwand kamen. Es war dort fast schwarz. Maren überließ weiter den Geschwistern das Rudern, die immer noch übereifrig mit ihren Händen gegen die Strömung paddelten. Sachte ließ sie eine Hand im Wasser treiben; es fühlte sich warm und weich an, wie Seide. Inga wiegte sich hin und her und hatte den Daumen in den Mund gesteckt. Die grellen Schwimmflügel wirkten sehr groß an ihren kleinen Ärmchen. Maren nahm die friedliche Stimmung in sich auf. Selbst die Geschwister hielten endlich mal die Klappe. Fast machte es ihr Spaß. Sie kitzelte Inga am Bauch und die kicherte. Eine große Libelle schwirrte direkt vor Marens Gesicht und war im nächsten Moment genauso schnell wieder verschwunden.

»Mann, ist das Wasser klar«, begeisterte sich Fabian, »ob man da wohl noch stehen kann?« Er hielt die Hand an die Augen, um nicht geblendet zu werden, während er auf den Grund sah. Maren blickte auf das langsam unter ihr dahinziehende Flussbett. Es sah tatsächlich nicht tief aus.

»Natürlich kann man hier noch stehen«, meinte Silvia überzeugt.

»Ich weiß nicht, das kann oft ganz schön täuschen«, erwiderte Fabian und schob sich eine Strähne seines dunklen Haares aus der Stirn. Er hielt den Ast senkrecht in die Tiefe.

»Reicht nicht«, sagte er und blickte auf. Plötzlich rief er: »He, schaut mal die Felsen da! Sieht aus wie ein Indianer mit einer riesigen Hakennase, findet ihr nicht auch?« Fabian deutete nach oben auf einen spitzen Felsvorsprung. Maren folgte seinem Blick. Tatsächlich, der gelblich hervorspringende Stein hatte Ähnlichkeit mit einer Hakennase.

»Stimmt, sieht komisch aus«, meinte Silvia. Maren musterte den Felsen. Zwei dunkle Vertiefungen links und rechts neben der Nase verstärkten den Eindruck eines Gesichtes noch. Ihr Blick wanderte abwärts. »Seht ihr das auch?«, fragte sie. »Unter der Nase ist ein kleiner Felsvorsprung, fast wie ein Bart.«

»Ja, sieht aus wie ein Balkon«, meinte Hubbsi.

»Meint ihr, da könnte man hochklettern?«, fragte Silvia.

»Und dann ins Wasser springen!«, rief Hubbsi begeistert.

»Und wer soll auf das Floß aufpassen?«, fragte Maren. Diese blöden Geschwister mit ihren noch blöderen Ideen.

»Weißt du was, du bist eine richtige Spielverderberin!«, rief ihr Silvia über die Schulter zu.

»Bin ich nicht, ich denke nur ein bisschen weiter als ihr zwei Vollpfosten.«

»Das Floß können wir doch hier an den Felsen schieben, siehst du, dort ist eine Nische, da kann es nicht wegschwimmen!«, sagte Silvia.

»Ganz toll, und was sollen wir in der Zeit mit Inga machen? Sie kann doch da nicht hochklettern! Oder willst du sie vielleicht alleine auf dem Floß sitzen lassen?«, meinte Maren.

Silvia schwieg nur einen kurzen Moment. »Dann bleibst du eben bei ihr«, entschied sie knapp, »damit schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe: So sind Inga und das Floß sicher!«

»Vergiss es, entweder alle oder keiner!«, rief Maren.

»Ich habe eine bessere Idee«, warf Fabian ein, »wir bringen Inga zurück ans Ufer. Das Floß mach ich im Wasser fest, seht ihr? Da vorne schaut ein toter Baum aus dem Wasser, dort binde ich es an. Dann schwimmen wir an den Felsen zurück und versuchen, hinaufzuklettern. Einverstanden, Inga?«, fragte er, und drehte sich zu seiner kleinen Schwester um. »Du darfst dich ins Gras setzen und zusehen, wie wir ins Wasser springen, einer nach dem anderen, was meinst du?«

Inga sah ihn mit ihren großen dunklen Augen an, nahm den Daumen aus dem Mund und nickte strahlend. Sie kannte das Spiel: Fabian tauchte unter und kurz darauf an irgendeiner Stelle wieder prustend auf. Inga quietschte dann immer vor Vergnügen und konnte nie genug davon bekommen.

»Das ist eine tolle Idee, Fabian!«, pflichtete Silvia ihm bei. »Bist du damit zufrieden, Spielverderberin?«, schob sie an Maren gewandt nach.

Maren ärgerte sich mehr darüber, dass Silvia sich bei Fabian einschmeicheln wollte, als dass sie sie »Spielverderberin« genannt hatte. Aber sie wollte sich das nicht anmerken lassen. »Von mir aus«, zuckte sie mit den Schultern.

Gemeinsam ruderten sie an das Ufer zurück, stiegen ab und banden das Floß an dem toten Baum fest. Sanft trieb es auf dem Wasser. Maren setzte Inga ins Gras.

»Bleib schön brav hier sitzen, ja?«, sagte Fabian und verscheuchte eine Fliege, die sich auf Ingas Wange gesetzt hatte. Die Kleine nickte und grinste ihn an. Fabian lachte und fuhr ihr durchs Haar.

»Alles klar, jetzt kann’s losgehen!«, rief er und stürzte sich ins Wasser. Mit ein paar kräftigen Kraulzügen hatte er die gegenüberliegende Felswand erreicht. »Achtung, ich check jetzt mal die Tiefe!«, rief er und tauchte unter. Als er prustend wieder hochkam, kriegte sich Inga vor lauter Lachen kaum mehr ein.

»Ja, da steht sie drauf«, nickte Fabian. »Also Leute, es ist tief genug zum Springen. Los, kommt schon!«

Die anderen folgten ihm ins Wasser. Maren warf einen Blick zu Inga zurück, aber die blieb friedlich glucksend auf ihrem Platz sitzen.

Fabian entdeckte einen geeigneten Einstieg und begann, die Wand hinaufzuklettern. Einer nach dem anderen folgten sie ihm. Maren roch die warmen Steine und das trockene Gras. Grillen zirpten laut und durchdringend. Jeder konzentrierte sich auf den nächsten Schritt nach oben. Fabian erreichte den markanten Felsvorsprung und konnte bequem darauf stehen. Hinter ihm quälte sich Hubbsi hinauf, immer wieder am Hintern von seiner Schwester angeschoben. Fabian reichte den beiden die Hand und half ihnen auf die Plattform. Als Maren an der Reihe war, war es Silvia, die ihr die Hand hinhielt. Doch Maren tat so, als sähe sie das nicht – wäre es Fabians Hand gewesen, hätte sie sie genommen.

Sie standen nun alle vier auf dem Vorsprung. Er war zwar schmal, bot aber genug Platz, sodass sie locker nebeneinander darauf stehen konnten.

Maren blickte nach unten – es sah nicht sonderlich tief aus. Sie winkte Inga zu, die zurückwinkte, indem sie ihre Hände auf und zu machte. Maren lachte. Hubbsi schnaufte immer noch lauter als alle anderen.

»Seid ihr bereit?«, fragte Fabian.

»Ok, wir springen gemeinsam rein, ja?«, bestimmte Silvia.

»Und ich zähl bis drei!«, quietschte Hubbsi.

»Klar, wer sonst«, murmelte Maren und stellte sich in Position.

Gemeinsam blickten sie hinunter. Maren fand es nicht besonders hoch: Vom drei Meter Brett zu springen, hatte sie mehr Überwindung gekostet. Einzig die dunkle Farbe des Wassers löste ein wenig Unbehagen in ihr aus. Sie sah noch mal zu Inga, die gespannt zu ihnen aufsah. Ihre grellen Schwimmflügel hoben sich gut von der dunklen Umgebung ab. Maren zupfte sich das feuchte Shirt von der Haut und wartete auf das Kommando.

»Also, ich zähl jetzt, ok?« Hubbsi blickte von einem zum anderen, dann hob er die Hand. Fabian nickte. »Wer es schafft, den Grund zu berühren, hat gewonnen – aber nicht schummeln!«, meinte er.

Silvia stellte sich noch ein Stück weiter nach vorne und Hubbsi begann zu zählen. Als er »Drei!« rief, nahm Maren die Bewegung der anderen wahr, schloss die Augen und sprang.

Das Wasser an der Oberfläche war warm. Ihr Körper stieß weit hinab. Die Wärme wich, in der schwärzlichen Tiefe fühlte es sich kalt an, sehr kalt. Maren konnte keinen Grund spüren, obwohl sie meinte, tief hinab gesprungen zu sein. Stattdessen spürte sie einen Schlag am ganzen Körper und riss die Augen auf. Zunächst glaubte sie, mit Silvia zusammengestoßen zu sein. Doch es fühlte sich anders an, als ob etwas sie auseinanderreißen wollte. Sie begann heftig mit den Armen zu rudern. War sie in einen Strudel geraten? Sie versuchte Licht zu sehen, aber da war nichts. Langsam wurde ihr die Luft knapp, sie wollte hier raus! Mit aller Kraft kämpfte sie, um nach oben zu kommen, wo immer das auch sein mochte. Endlich meinte sie, einen grüngelben Lichtschimmer zu erkennen und schwamm darauf zu. Der seltsame Sog schien nachzulassen, es wurde heller und sie durchbrach die Wasseroberfläche.

Tief Luft holend tauchte Maren auf. Fast gleichzeitig schossen Silvia und Fabian neben ihr auf und kurz darauf auch Hubbsi. Alle japsten zunächst nach Luft. Fabian fand als Erster die Worte wieder: »Krass, habt ihr das auch gespürt?«

»Meinst du den Schlag? Ja, und dann hab ich einen Sog gespürt!«, rief Maren.

»Ja, ich auch und dann hat es sich angefühlt, als wenn mich was runterziehen wollte – gruselig!«, schüttelte sich Silvia.

»Und ich erst!«, schrie Hubbsi. »Ich war ohnmächtig!«

»Quatsch, dann wärst du ersoffen, du Blödmann!«, meinte Silvia, packte ihn am Kopf und tauchte ihn unter.

»Echt jetzt! Wenn ich es euch doch sage! Ich schwör’s!«, prustete Hubbsi, als er wieder hochkam.

»Scheint doch tiefer zu sein, als wir gedacht haben. Wer weiß, was da unten ist«, sagte Maren. Die tiefe, undurchdringliche Schwärze unter ihr machte ihr plötzlich Angst. »Ich will hier raus«, sagte sie und drehte sich Richtung Ufer. Sie schwamm los und hielt Ausschau nach Ingas neonfarbenen Schwimmflügeln. Doch sie sah sie nicht. Maren stockte. Fabian, der neben sie geschwommen war, hielt ebenfalls mitten in der Bewegung inne. »Wo ist Inga?«, fragte er.

Marens Blicke flogen über den Uferstreifen. Alles, was sie entdecken konnte, war das Floß, das immer noch im Wasser lag. Aber keine Inga. Fabian kraulte mit ein paar kräftigen Zügen an Land und stieg aus dem Wasser. Er stand direkt an der Stelle, an der Inga gerade noch gesessen hatte und sah sich suchend nach allen Seiten um. »Inga, wo bist du?« rief er.

Auch Silvia und Hubbsi hatten mittlerweile bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Als alle vier am Ufer standen, konnte Maren es nicht fassen. Der Platz, an dem sie Inga zurückgelassen hatten, war einfach leer. Inga war weg. Maren blickte sich immer wieder um – wo war die Kleine nur so schnell hin verschwunden? Gerade eben hatte sie noch fröhlich zu ihnen herübergewinkt und jetzt war nichts mehr von ihr zu sehen – hatte sie sich versteckt?

»Vielleicht versteckt sie sich?«, sagte sie laut.

Fabian suchte weiter die Uferböschung ab, er hob sogar das Floß aus dem Wasser und sah darunter – Inga war nicht da.

»Inga, lass den Blödsinn, wir spielen nicht Verstecken mit dir – komm raus, wo bist du?«, rief er. Seine Stimme zitterte. »Los, helft mir suchen! Teilt euch auf, aber bleibt in Rufweite!«

Maren und die Geschwister trennten sich. Je mehr Büsche Maren auseinanderbog, je länger sie die anderen nach Inga rufen hörte, ohne dass diese auftauchte, desto unheimlicher wurde ihr das Ganze. Ihr Magen fühlte sich an, als hätte sie zu viel von dem kalten, schwarzen Wasser geschluckt. Sie kehrte zum Floß zurück, auf dem Fabian zusammengesunken saß. Die Geschwister standen daneben und sahen ihr mit einem Blick entgegen, der ihre ganze Ratlosigkeit zeigte.

»Inga ... Mensch, Inga.« Fabians Stimme klang dünn. Immer wieder fuhr er sich durch die Haare. »Das kann doch nicht sein! Wo ist sie nur hin?«

»Vielleicht ist sie ins Wasser gefallen und abgetrieben oder so«, wand Silvia leise zögernd ein.

»Blödsinn«, fuhr Fabian sie an, »in der kurzen Zeit? Wir waren doch nur für ein paar Sekunden unter Wasser! Unmöglich!« Sein Blick hatte etwas Gehetztes.

Maren schluckte. »Fabian hat recht, das hätten wir doch sehen müssen, so weit wie hier der Fluss zu überblicken ist – vielleicht ist sie weiter in das Gebüsch hineingelaufen, wollte sich dort verstecken?«

»Da haben wir doch schon alles abgesucht! So weit kann sie doch gar nicht hineingelaufen sein!« Fabian warf die Arme in die Luft, seine Haut wirkte fahl, er zitterte. »Das gibt’s doch nicht! Gerade war sie doch noch hier!«

Hubbsi sah von einem zum anderen. Stumm drehte er kleine Knoten in den Stoff seines Shirts, immer wieder.

Maren spürte ihre Knie weich werden. Ihr Mund fühlte sich seltsam trocken an. Unruhig tastete sie mit den Augen das Ufer, den Fluss und die Felswand ab, aber zuletzt blieb ihr Blick immer an der Stelle hängen, an der Inga hätte sein müssen. Maren deutete in den Wald, der sich schwarz hinter den Büschen ausbreitete. »Wir sollten trotzdem dort noch mal nach ihr suchen – sie muss einfach hier irgendwo sein!«

Entschlossen stapfte sie los, darum bemüht, sich ihre wackeligen Beine nicht anmerken zu lassen.

»Ja, sie muss hier irgendwo sein, sie muss einfach!« Fabian stand auf und folgte Maren. Er wiederholte die letzten Worte immer wieder und schlug sich dabei die Faust in die Handfläche. Die Geschwister folgten ihnen wortlos. Silvia schlang fröstelnd die Arme um ihren Körper, Hubbsi kaute auf seiner Unterlippe herum.

Sie suchten lange und sie suchten gründlich. Nach gut zwei Stunden gaben sie auf. Inga blieb verschwunden.

Wie vom Erdboden verschluckt.



((Ende der Leseprobe ))